Stell’ dir vor, es ist Volkszählung – und niemand regt sich auf: Am 9. Mai startet der Zensus 2011, die erste groß angelegte Erfassung der Bevölkerung seit der denkwürdigen Zählung von 1987. Damals gab es heftigen Widerstand, Proteste, Boykotts – heute ist davon kaum etwas zu spüren. Dabei hat es auch die neue Volkszählung in sich.
Die Stimmung ist nicht gerade gemütlich im Sitzungssaal des Rathauses. Die Vertreter des Landesbetriebs für Statistik und Kommunikationstechnologie Niedersachsen (LSKN) haben zur Pressekonferenz geladen, wirken aber nicht gerade so, als wären sie besonders erpicht darauf, sich mit den erfahrungsgemäß kritischen Nachfragen der Journalisten hinsichtlich des Zensus auseinanderzusetzen. „Wozu das Ganze?“, wollen diese natürlich wissen, und die wenig befriedigende Antwort lautet: Hauptsächlich, um die Bevölkerungszahlen auf einen aktuellen und korrekten Stand zu bringen. Die vorhandenen basieren im Wesentlichen auf der Fortschreibung der 1987 gewonnen Zahlen.
Oldenburg hat rund 162.000 Einwohner, laut Melderegistern ind es aber nur 158.000; viele Bürger versäumen es oder halten es nicht für nötig, sich richtig an- oder umzumelden. „Wie soll man denn da planen?“, fragt Klaus Wodarzik vom städtischen Fachdienst Geoinformation, Vermessung und Statistik, der für die Erhebung in Oldenburg zuständig ist: „Die Kollegen in der Verwaltung rufen nach diesen Daten.“ Damit sie sie bekommen, sollen zehn Prozent aller Bundesbürger über die Haushaltsbefragung erreicht werden, was zunächst nicht besonders viel klingt. In Oldenburg sind davon 7.700 Personen betroffen. Zugleich werden aber auch sämtliche Haus- und Wohnungsbesitzer erfasst, außerdem Bürger, die in Wohnheimen oder Gemeinschaftsunterkünften leben. Insgesamt könnten, so rechnet der AK Zensus vor, mehr als 25 Millionen Menschen betroffen sein.
“… und was machen Sie da so?”
Die Statistikbehörden geben sich viel Mühe, der Bevölkerung die Erhebung, die 720 Millionen Euro kostet, schmackhaft zu machen: Flyer wurden gedruckt, Imagefilme gedreht, Webseiten geschaltet. Den Zensus 2011 kommt frisch und hipp daher, nichts gemahnt an die von vielen Menschen heftig angefeindete Volkszählung von 1987, nicht einmal der Name. Dabei leuchtet der aktuelle Zensus den Befragten keineswegs weniger aus als sein Vorläufer: Er möchte beispielsweise nicht nur wissen, welchem Beruf der Befragte nachgeht, sondern auch, welche Position er an seinem Arbeitsort innehat und was er dort genau tut. Der Fragebogen erklärt auch freundlich, was genau gemeint ist: Eine Blumenverkäuferin solle demnach „Beratung, Verkauf, Verpacken von Pflanzen“ angeben. Und wer in Frage 13 – “Haben Sie auch in der Woche vom 9. bis 15. Mai mindestens eine Stunde eine bezahlte Tätigkeit ausgeübt?” mit “Nein” antwortet, darf in Frage 14 auch gleich angeben, warum nicht.
Man mag dies als bizarren, aber noch als eher harmlos zu bezeichnenden Auswuchs bürokratischen Datenhungers ansehen. Delikater ist da die nötige Angabe von Name und Anschrift. Die würden gebraucht, um „Daten zusammenzuführen“ und abzugleichen, so LSKN-Chef Christoph Lahmann. „Daten zusammenführen“ – das bedeutet, an verschiedenen Stellen bereits vorhandene Daten zur Erhebung heranzuziehen. Das erlaubt das Grundgesetz unter normalen Umständen nicht, aber der Zensus läuft offenbar nicht unter normalen Umständen.
Kleine Hilfe unter Behörden
Die Meldeämter schicken eine ganze Reihe von bei ihnen hinterlegten Daten: Name, Anschrift, Staatsangehörigkeit, Datum des Beziehens der Wohnung. Die Personalbehörden verschiedener Ministerien liefern Daten der Staatsbediensteten. Die Bundesagentur liefert Informationen zum Arbeitsort, Ausbildung, Beschäftigungsart – was die Zensusbehörde indes nicht davon abhält, diese Angaben im Fragebogen noch einmal abzufragen. Auch die Arbeitsagentur und andere „auskunftspflichtige Stellen“ liefern Name, Anschrift, Geburtstag und Geschlecht gleich mit – als „Hilfsmerkmale“ zwecks korrekter Zuordnung. Haus- und Wohnungsbesitzer müssen nicht nur Angaben zum Wohnraum, sondern auch zu den dort lebenden Personen machen.
Einer der anwesenden Volkszähler fasste die Ausführungen zur „Daten-Zusammenführung“ und den „Hilfsmerkmalen“ in einem vielleicht anders gemeinten, aber dennoch verräterisch klingenden Satz zusammen: Es handele sich um eine „Methode, an Daten zu kommen, die auf anderem Wege rechtskonform nicht zu bekommen sind.“ Tatsächlich haben verschiedene Gerichtsurteile in den letzten Jahren das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wiederholt gestärkt; und die Behörden versichern, dass diese „Hilfsmerkmal“-Daten schnellstmöglich gelöscht würden.
Bei der Haushaltebefragung werden, so heißt es in der Pressemitteilung, „alle dort lebenden Personen gebeten, einen Fragebogen mit 46 Fragen zu beantworten“. Das Wort „gebeten“ darf man ruhigen Gewissens als Höflichkeitsfloskel abtun, denn tatsächlich sind die Bürger gesetzlich verpflichtet, Auskunft zu geben, und zwar mit ehrlichen Antworten. Das werde anhand von „Plausibilitätsverfahren“ überprüft, sagt Eckart Methner, Statistik-Vorstand beim LSKM. Man werde dem im Zweifelsfall nachgehen und an diese Leute dann herantreten. Der Gedanke liegt nahe, dass auch dafür Name und Anschrift gebraucht werden.
Teurer Spaß
Das klingt bedrohlich und ist es zumindest in finanzieller Hinsicht auch: Wer seiner Auskunftspflicht nicht nachkommt, muss ein Zwangsgeld zahlen. 300 Euro sind für die erste Verweigerung fällig, zuzüglich 100 Euro Verwaltungsgebühr. Bei fortgesetzter Widerborstigkeit steigt das Zwangsgeld, im nächsten Schritt auf 500 Euro, eine Obergrenze nennt niemand. Sogar zur Ersatzzwangshaft kann es kommen. Und da man jemandem, der ohnehin schon in Haft – oder auf der Straße – sitzt, damit nicht recht drohen kann, werden in sogenannten „sensiblen Sonderbereichen“ wie Gefängnissen oder Obdachlosenunterkünfte die „Bewohner“ gar nicht erst selbst hinzugezogen: „Die Erhebung erfolgt durch die Leitungen der Einrichtungen“, heißt es lapidar im entsprechenden Fragebogen; es finde „keine unmittelbare Befragung der Personen statt“, heißt es in der Anleitung für Erhebungsbeauftragte.
Und die Sicherheit der gesammelten Daten? Da könnten die Bürger ganz beruhigt sein, verspricht Lahmann: „Die Daten gehen in die Statistik ein, kommen aber nie mehr heraus.“ Zudem verfüge man über die „besten technischen Sicherungen, die es gibt“. Das ist angesichts immer wieder mal auftauchender Meldungen über nicht funktionierende Behördensoftware schwer zu glauben. Außerdem werden die gesammelten auszuwertenden Daten nicht weniger als 48 Monate aufbewahrt; es könnten sich also noch Hacker daran versuchen, die jetzt noch nicht einmal alt genug sind, um einen eigenen Computer zu besitzen.
Viel Zündstoff für Protest – eigentlich. Aber wo findet der statt? Da gibt es den AK Zensus samt Website, da schüttelt der eine oder andere Blogger müde seine Faust und wettern vereinzelte Linke und Grüne gegen die Volkszählung, hie und da findet sich ein vereinsamter Anti-Zensus-Flyer. Auf die Straße scheint das heute indes kaum mehr jemanden zu locken. Der laissez-faire-Umgang der Generation Web 2.0 mit eigenen Daten scheint sich da niederzuschlagen, und auch die Datensammler verweisen mit Genugtuung darauf: „Payback weiß, was Sie einkaufen, Facebook weiß, was für Hobbys Sie haben und Google Earth hat Sie vielleicht auch noch dabei fotografiert“, schnarrt einer der Volkszähler genervt in Richtung einer Journalistin, lässt aber unerwähnt, dass der Datenstriptease per Payback oder Sozialem Netzwerk immer noch freiwillig geschieht. Der Zensus ist hingegen von Anfang an zu einer staatsbürgerlichen Pflicht entwickelt worden.
Schrei nach Liebe
„Wir wünschen uns Akzeptanz“, sagt Methner, „wir wünschen uns Verständnis“. Es klingt beinahe flehend, denn auch wenn es längst nicht so rumort wie 1987 – Datensammlung ist ein Reizthema, heute vielleicht mehr als je zuvor, trotz Facebook und Co. Zu sehr hat die Exekutive im vergangenen Jahrzehnt nach den Daten der Bürger gelechzt, zu oft versucht, auf die eine oder andere Art an sie zu gelangen, sei es durch Vorratsdatenspeicherung oder Bundestrojaner – und ist dabei mit solcher Regelmäßigkeit vom Bundesverfassungsgericht zurückgepfiffen worden, dass es auch jetzt schwer fällt, an ausschließlich harmlos-statistische Beweggründe zu glauben und daran, dass der enorme Aufwand tatsächlich im Wesentlichen nur dazu dient, Melderegister auf Vordermann zu bringen.
Die Statistiker jedenfalls sind nach Kräften bemüht, Bedenken zu zerstreuen. „Sie müssen den Interviewer nicht reinlassen, Sie können den Bogen auch online ausfüllen“, beschwichtigen sie angesichts der Meldungen, dass sich NPD-Mitglieder als Erhebungsbeauftragte beworben haben. Die Daten seien sicherer als die aus kommerziellen Gründen erhobenen – Stichwort Telekom. Und schließlich: Es sei ja nicht alles nur Zwang, die Beantwortung der Frage nach dem religiösen Bekenntnis etwa habe man gezielt offen gelassen. Das stimmt: Unter der Frage 8 – welcher Glaubensrichtung der Befragte angehört – steht deutlich: „Die Beantwortung dieser Frage ist freiwillig.“
Dumm nur, dass bereits in Frage 7 nach der Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft gefragt wird – und die Beantwortung dieser Frage ist nicht freigestellt.
10:10
Wirkt erst harmlos, ist aber ein geharnischter Angriff auf
innerste Persönlichkeitsrechte. Boykott. Menschen wachrütteln.
Bund & Länder mit Klagen überziehen.
Steine des Anstoßes:
- Zynische, kalkulierte Mißachtung des Urteils von 1987
- Kafkaeske Drohgebärden und Lügengespinste,
dieses Agieren aus dem Machtgefälle hinaus macht den
ganzen Rest-Sinn der Aktion vollends zunichte.
(wäre es ernst mit der Anonymisierung, gäbe es übrigens
keine Rückfragen von der Stasi, äh, dem Statistikamt)
- Zweckentfremdung vorhandener Daten, um (verbotene) Profile
zu erstellen. Geschieht es einmal, geschieht es wieder.
Wem soll ich also glauben, daß die Daten sicher sind
- Der Berechenbarkeitsglaube dahinter.
Eine Regierung, die mehr als 2 verfassungswidrige Gesetze
mit Absicht durchboxt, absetzen.
CDU und CSU als extremistische, verfassungsfeindliche Parteien
verbieten. Die Verstrickungen mit der Atomlobby sollten ja
bereits genügen, das ist Verrat an der Zukunft, für die sie
“die Infrastruktur planen” wollen. Diese Ausrede wirkt doch
sehr lahm angesichts der Tatsachen.
Die anderen Parteien haben hoffentlich noch ein Ohr für die
Vernunft. Bravo, Piraten, für eure klare Position.
Ich “zähle” auf viel lokalen Widerstand.
Bin selber leider auf unbestimmte Zeit weit, weit weg …
15:50
“Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen.” BVerfG im sog. Volkszählungsurteil von 1983.
Entgegen der Darstellung, es würden ja nur 10% der Bevölkerung befragt werden, findet sodoch eine Vollerfassung von Immobilienbesitz (und damit den einwohnenden Mietern) statt. Außerdem wurden die Meldedaten missbraucht und vollständig für den Zensus aka Volkszählung verwendet (sog. “registergestützter Zensus”).
Es besteht immer noch die Möglichkeit, aus Grund X oder Grund Y die Daten anschl. per Gesetz umzuwidmen, sei es aus finanziellen Gründen (“Die Daten liegen ja schon vor.”) oder aus anderen fahdenscheinigen Gründen (“Bekämpfung von Kaugummiautomaten-Kriminalität”). Dafür dient unter andem a) eine zentrale (!) Speicherung aller Datensätze (vgl. Zensus-Gesetz) und b) eine Speicherfrist von vier (!) Jahren.
Ich habe mich entschieden, diesen Einschnitten in meine Privatsphäre Einhalt zu gebiete und für eine Renaissance der Aufklärung zu kämpfen. Ich bin Pirat.
21:20
Dieser Staat hat 1987 mit diesem Prozedere bei mir auf Granit gebissen und wird es auch diesmal wieder tun – auch ohne eine größere Mobilisierungskampagne gegen die aktuelle Volksaushorchung.
Anscheinend werden die willigen Helferleins ja wieder unangekündigt & unerwünscht vor der Haustüre erscheinen – genau wie 1987.
Sie bekommen für jeden VOLLSTÄNDIG abgelieferten Fragebogen Minimum 7,50 Euro – erfolglos lediglich 2,50 Euro. — Dieser Umstand kann Kreativität der Nichtwilligen erwecken.
Ich werde (falls das Los mich beglückt) mit Helferlein einen festen zweiten Termin ausmachen, der mir genehm ist (bin ja leider im Aufbruch begriffen etc.). An diesem Termin – natürlich am besten in Anwesenheit einer weiteren Person – habe ich dann zufällig verschiedene Bedürfnisse, u.a. z.B. werde ich mindestens von Durchfall geplagt, das Handy meldet sich per Vibrationsalarm in der Hosentasche, die Meerschweinchen müssen im Garten umplatziert werden, die Katze muss ihre Diabetis-Spritze bekommen, der Vorteig vom Brot muss weiter verarbeitet werden — 1001 Möglichkeiten sind denkbar.
Der Fragebogen wird jedenfalls unvollendet bleiben, also: “tut mir leid, ich mach das morgen oder übermorgen lieber selber” – oder Helferlein bietet das schon früher von sich aus an.
Stichwort: Demotivierung der Helferlein – auch für die Zukunft.
Wenn man keine Zeit und/oder Lust auf “verstecktes Theater” hat: Fragebogen freundlich entgegennehmen und damit machen, was man sich traut.